Freitag, 28. April 2023

KW 17, 2023: Die luserlounge selektiert

Quelle: br.de
(Sb/ms) Mit dem Rücken zum Fenster gewendet, saß ich am Montag im Lesesessel und entspannte mich ein wenig nach der Arbeit. Ein paar Planungen, ein paar Ideen schwirrten durch den Kopf, ein wenig runterfahren und sich auf den Abend freuen. Doch nach einem recht harten PENG an der Scheibe, war ich hellwach. Schaute auf den Terrassenboden vor dem Fenster und sah dort eine kleine Meise liegen. Sie zuckte ganz verzweifelt. Hilflos sah ich ihr dabei zu. Wie die Zuckbewegungen schwächer und weniger wurden und schließlich aufhörten. Der kleine Fratz war tot. Was tun?! Draußen regnete es wie in Strömen, aber ich konnte ihn da auch nicht alleine lassen. Also schnell Jacke über und Schuhe an und ein kleines Loch gegraben und die kleine Meise hinein verfrachtet und zugebettet. Da liegt sie nun. Das arme kleine Ding. Traurig war ich. Ganz schön traurig. Der kleine Vogel. Und - ungelogen - taperte eine halbe Stunde später eine andere Meise durch den Garten. Vielleicht suchte sie ja ihren Freund. Ach, herrje. Da muss mal schnell Musik an, sonst kullert mir noch eine Träne über die bibbernde Wange…

De Staat
(Ms) Letztens war ich beruflich im Kino. Ja, das geht. Es lief der Animationsfilm Alles Steht Kopf. Es geht um das Innenleben eines Teenager-Mädels, die langsam pubertär wird und wo sich Verhaltensweisen ändern. Die Handlung findet in ihrem Kopf statt. Dort, in der Schaltzentrale, bedienen die fünf Grundemotionen Angst, Sorge, Ekel, Wut und Freude ihre Handlung und Reaktionen. Diese fünf kleinen Wesen hatten je nach Emotion eine unterschiedliche Farbe. Ekel war grün, Sorge dunkelblau. So halt. Ob die niederländische Band De Staat den Film gesehen hat, weiß ich nicht. Aber es könnte ziemlich gut passen. Denn im letzten Jahr haben sie drei EPs veröffentlicht. Alle hatten den Namen einer Farbe, Yellow, Red und Blue. Jede EP bestand aus fünf Stücken und sollte aus einer bestimmten musikalischen Seite der Band bestehen. Yellow für Fröhlichkeit, Blue für das Melodische, Red für den zornigen Part. Nun sind alle drei EPs zu einem Album verschmolzen, das selbstredend Red, Yellow, Blue heißt und am 2. Juni erscheint. Für all die, die die EPs nicht einzeln besitzen. Zugegebenermaßen kannte ich die Band gar nicht so sehr, doch diese Platte holt mich ganz schön ab. Das Quintett macht deftig elektronische Musik mit viel Bass, Synthies und Rhythmus. Es klingt wie ein Mix aus Gorillaz, Everything Everything und C2C. Das ballert mitunter recht ordentlich und macht ungeheuer Laune, es immer lauter und lauter zu drehen. Eine richtig tolle Entdeckung, über die ich mich sehr freue. Noch toller wäre es natürlich, wenn die Band demnächst hierzulande live zu sehen wäre.


Karies
(Ms) Okay, über die Genialität des Bandnamens muss man ja eigentlich gar nicht berichten. Aber das ist schon ganz schön ausgefuchst, oder? Karies! Was für ein brutaler Name. Tut ja direkt höllisch weg und erinnert daran, dass der letzte Zahnarztbesuch viel zu lange her ist. Erwarten würde ich als erstes krawalligen Punkrock oder sehr programmatische Ablegermusik von Tocotronic. Beides ist nicht der Fall. Post-Punk, verlangsamter New Wave. Sowas. Elektronisch, mitunter düster, fast schon etwas psychedelisch an einigen Stellen. Das weiß sehr schnell zu gefallen. Im März ist ihr neues Album Tagträume An Der Schaummaschine I erschienen, und das müsste der Gagahaftigkeit des Titels zufolge von Schlammpeiziger geklaut sein. Zugestehen muss ich aber auch, dass ich gar nicht mal so sehr auf den Text achte (das ist sicher woanders besser nachzulesen). Denn die Musik zieht mich in einen abenteuerlichen Bann, auch wenn sie oft gar nicht so ausgefallen ist. Eher die phasenweise dynamische Monotonie packt mich, wenn die Gitarre mal den Ton angibt, dann wieder der Rhytmus, dann wieder die Synthies. Das passt alles sehr gut ineinander, ist wunderbar verwoben. Hört, hört:


Jungstötter
(Ms) Wie viele Bands haben allein wir schon in den letzten Jahren ganz weit nach oben geschrieben. Gemeint, dass das bald überall laufen wird. Oder zumindest auf den geschmackvollen Indiepartys. Doch manchmal sind es nicht nur die ganz kleinen Blogs, dann sind es auch mehr, die schreiben. Und bei Sizarr waren sich vor vielen Jahren sehr viele Schreibende einig: Das wird was, das wird knallen. Ja, es wurde etwas. Aber nur recht kurz. 2018 löste die Band sich auf und ihr Sänger Fabian Altstötter ist seitdem aus Solopfaden unterwegs und zeigt allein, wie wunderbar seine Stimme erklingen kann. So zart, zerbrechlich und manchmal auch kräftig und doll. Jungstötter heißt sein Projekt, nun gut. Heute erscheint sein zweites Album One Star. Und es ist wirklich toll geworden. Platten, auf denen Künstler mehrere Seiten zeigen und bei denen immer noch ein roter Faden zu erkennen ist, sind die, die in meinen Ohren Qualität zeigen. Können. Wissen um Musik. Und genau das ist hier der Fall. Genau deshalb ist dieses Album so schön! Die zarten Seiten machen mir das Herz schwer, die dollen blitzen und donnern durch meinen Körper. Und das kann ganz wunderbar direkt nacheinander geschehen. Wow! Hier empfehle ich dringend, sich in Ruhe in das Album reinzuhören, da es meines Erachtens sonst Gefahr läuft, zu schnell da Acta gelegt zu werden. Also: zurücklehnen, Kopfhörer auf, Augen schließen und drauf einlassen!


Kati von Schwerin
(Ms) Oft finde ich es kaum auszuhalten, wie unfassbar gemein diese Welt ist. Ich könnte echt daran zu Grunde gehen. Seit mindestens siebzehn Jahren höre ich aufmerksam Musik und bin richtig gerne auf der Suche nach dem, was sich richtig lohnt, dafür die Ohren zu spitzen (aus meiner Warte, klar). Es ist und bleibt einfach zu wenig Zeit, um sich alles anzuhören. Und wenn man dann etwas gefunden hat, das sofort richtig berührt und wo die Kinnlade offen steht, dann muss ich davon berichten! Heute: Kati von Schwerin. Was für ein bezaubernder Name. Und was für kraftvolle Musik, von der ich vorher noch nie gehört habe. Mary‘s In Need zum Beispiel ist nah an Kat Frankie dran. Genau im richtigen Maß opulent und sehr dynamisch. Mir gefällt, wie geschmackvoll die Streicher eingesetzt sind. Auch die Bläser spielen sich nie in den Vordergrund, sondern geben dem Lied genau die Power, die es braucht. Das ist wirklich außergewöhnlich rund, was hier zu hören ist, begeistert mich beim ersten Hören! Zum Glück ist vergangene Woche ihr neues Album erschienen. Bitte hört euch Welcome Back Home an, es ist ganz große Musik, der vielleicht noch etwas die Reichweite fehlt. Aber das ändern wir jetzt, oder?! Genau!


Gregor McEwan
(Ms) Selbstredend ist eine der schönen Herausforderungen beim Schreiben, dass es möglichst abwechslungsreich ist. Schon oft haben wir über die vielen wunderbaren Lieder von Gregor McEwan geschrieben. Und über seine Wahl zu diesem super Künstlernamen. Nun hat er wieder ein neues Stück für uns. My Little Girl ist ein herrliches Liebeslied, weil es so ehrlich ist. Gott, was ist diese Welt kompliziert. Der Text scheint so wahnsinnig leicht zu sein, aber er ist es nicht. Die präzise gewählten Worte sind der Kniff, die das Lied ganz groß werden lassen. Und an dieser Stelle muss mal erwähnt werden, wie toll seine Stimme eigentlich ist. Auf der einen Seite so schön sanft, dann auch immer wieder klar, manchmal kommt eine etwas knarzige Seite durch, dann wieder hell und strahlend. Noch Toller: Die leichte Verzweiflung, die dem Text ja auch irgendwo innewohnt, kommt durch seine Stimme einfach perfekt raus! Das ist Kunst, das passt einfach komplett! Woha, hört es euch bittebittebitte an: 

Donnerstag, 27. April 2023

Echo Neuklang Compilation

(Ms) Musik schweift. Musik tänzelt. Musik erklingt. Musik polarisiert. Musik verbindet. Musik erzählt. Musik gibt. Musik will. Musik ist. Musik gleitet. Musik treibt.
Wohin das mitunter manchmal führt, ist herrlich rätselhaft. Denn ihr liegt auch inne, dass sie gänzlich frei ist. Sie kann auch für sich ganz allein stehen. Sie kann Neugier wecken, Experimentierfreude auslösen, den Wahn entfachen. Wann erklingt was? Wann hören wir was? Puh, das ist schwer zu beantworten und sicher muss das jeder für sich ganz allein machen. Da ich nur für mich ganz allein sprechen kann, eine kleine Exkursion: Bestimmte Genres oder Stimmungen haben bei mir eindeutige Phasen, sind immer an den aktuellen Zustand gekoppelt und überlappen sich selten mal. Ich glaube, meine Metalphase ist gänzlich vorbei, auch die Mittelalterrockphase. Sie haben viel Spaß gemacht und doch eine Lücke hinterlassen. Manchmal ploppt ja auch ganz neues Interesse auf. Alles, was zum Thema Krautrock gehört, begann - wie hätte es denn auch sein können - mit Kraftwerk. Sie waren immer schon da und sind sicher der erste Name, der mit diesem seltsamen Begriff assoziiert wird. Live haben mich Kraftwerk stark fasziniert, doch zu Hause höre ich sie wenig. Da ertönen eher andere Bands, wenn es denn schon um Krautrock gehen soll.  Das Interesse daran wurde so richtig entfacht, als vor wenigen Jahren auf Arte die Dokumentation Conny Plank - Mein Vater, der Klangvisionär lief. Die Such des Sohnes nach dem kreativen Schaffen des Vaters. Bei all dem, was im Laufe dieses Films so erklang, wurde ich neugierig. Seitdem kann ich mich enorm für im weitesten Sinne elektronische Musik ab den 70ern begeistern. Dazu kamen ein paar Bücher, die ich las und das Feuer war entfacht. Krautrock, ein doofer Sammelbegriff für alles Randständige ab den 70ern. Experimentelle Musik trifft es viel besser. Oder halt Echo Neuklang
So haben Christoph Dallach, Andreas Dorau und Daniel Jahn ihre Kompiliation genannt, die Ende März über das geschmackssichere Label Bureau B erschien.
Es sind dreizehn ausgewählte Lieder mit einer Gesamtspielzeit von 71 Minuten. Das wirklich Großartige an dieser Zusammenstellung ist, dass es ein Streifzug ist aus den 70ern bis heute! Eine kleine Zeitreise, wo Krautrock (oder whatever) herkam und wie es sich bis heute ausgedehnt hat. Welche Einflüsse diese Haltung der Musik gegenüber hat. Es ist ein wunderbares Beispiel, dass das keineswegs nur Folklore ist, dass es immer nur Nostalgie ist, dass es immer nur ein wehmütiger Blick zurück ist. Vor fünfzig Jahren war es sicherlich viel einfacher, zu sagen, was denn randständig war. Die Bandbreite an zur Verfügung stehender Musik war halt wesentlich kleiner. Heute kommt man ja kaum noch hinterher, Effekthascherei auf irgendwelchen Playlisten, die viel zu viel Macht haben. Musik ist zum Teil irre kurzlebig geworden. Ich wünsche mir, dass wir wieder dahin kommen, Alben am Stück zu hören! Auch dieses hier. Das macht so ungeheuer viel Spaß. Es schwingt so ungeheuer gut, es geht so gut in den Körper über. Und das Tolle ist, dass diese Musik so wunderbar unaufdringlich ist. Man muss dem Ganzen Zeit geben, dann blüht diese Platte auf. Die meisten Stücke sind instrumental und zeichnen sich durch ganz viel Groove aus. Eines der wichtigsten Merkmale, das sich durch die Lieder zieht, ist die Wiederholung. Ja, viele Tracks haben psychedelische Elemente. Und ja, sie berauschen. Und machen unsagbar viel Spaß! Echo Neuklang - ganz groß, ganz laut, ganz stark!


Freitag, 21. April 2023

KW 16, 2023: Die luserlounge selektiert

Quelle: de.Wikipedia.org
(Sb/ms) Letztens war ich ein wenig im Urlaub. Die ostfriesischen Inseln sind ja sowohl ein Hotspot der Tourihölle, als auch extrem dörflich. Beides geht dort Hand in Hand. Und das finde ich irgendwie gut. Das eine wegen der schönen Erholung. Das andere wegen des Beschränktseins. Und in diesem Punkt ist mir etwas aufgefallen, dass ich hiermit für alle Landstriche fordere: Die Wiedereinführung der Mittagspause in Geschäften plus moderate Öffnungszeiten. Der Bäcker öffnet um halb sieben, der Supermarkt um acht, die anderen Geschäfte um halb zehn. Alle machen Pause von 13 bis 15 Uhr. Der Bäcker macht nicht mehr auf, weil seine frischen Waren eh ausverkauft sind. Der Rest öffnet nochmal bis halb sieben und alle sind glücklich. Nicht ein Laden auf dieser wunderbaren Welt muss nach acht Uhr abends geöffnet haben. Im Ernst. Alles andere sind nämlich nur Folgen einer völlig kranken Gesellschaft, die weit fahren muss, teils extrem lange arbeitet und sich unendlich gestresst fühlt. Ich finde, niemand sollte länger als sechs Stunden am Tag arbeiten. Dann kann man entspannt einkaufen gehen, mittags ein Päuschen machen und irgendwann auch mal das glücklichste Land der Welt sein. 

GoGo Penguin
(Ms) Immer wieder beteuere ich, dass dieser Blog ein reines Herzensprojekt ist. Niemand hat hier je Geld verdient oder wäre darauf aus. Es geht nur um Musik, deshalb sieht diese Seite auch so wahnsinnig toll aus. Musik und der Versuch das Gehörte in Worte zu fassen. Das braucht Zeit und die gab es zuletzt dafür leider wenig. Zum Beispiel, um eine große Review zum neuen, tollen Album von GoGo Penguin zu verfassen. Everything Is Going To Be OK lautet der etwas lakonische Titel dieser Platte, auf der die Band zum ersten Mal mit einem neuen Drummer spielt. Leider kenne ich das Trio nicht genug, um zu sagen, ob sich das hörbar auswirkt. Das durchaus Berauschende an ihrer Musik ist, dass sie wie aus einem Guss sich über das ganze Album erstreckt. Für mein Empfinden bräuchte es keine Einteilung in unterschiedliche Lieder, die dann wieder Namen haben. Die dreiundvierzigeinhalb Minuten bilden für mich eine ganz klare Einheit. Eine Wellenförmige. Denn das Tempo und die Dynamik schrauben sich immer wieder hoch und wieder runter. Mit stetiger Abwechslung spielen sich mal Bass, mal Schlagzeug, mal Klavier in den Vordergrund und wieder zurück. Alles wirkt in meinen Ohren extrem harmonisch, daher höre ich die Platte auch so gerne nebenbei. So wirklich aufregend ist sie gar nicht mal, aber sie besänftigt mich enorm. Und das ist aus meiner Sicht eines der größten Komplimente an Musik.


Element Of Crime
(Ms) Die andere Platte, die dieser Tage rauskam, auf die ich mich auch enorm gefreut habe und für die ich auch gar keine Zeit hatte, ist von Element Of Crime. Die nimmermüden Helden der deutschen Sprache. Kurz vor Veröffentlichung war ich schon voll im Regener-Fieber, da ich erst kürzlich Glitterschnitter las. Da fiel mir (mal wieder) auf, wie genial er seine Texte schreibt. Sie sind ungeheuer einfach. Aber so genau zurecht formuliert, dass die Einfachheit gar nicht mal auffällt. In seinen Büchern sind es die schrägen Situationen, die aufeinanderprallen. In seinen Liedern beweist Sven Regener genau so gutes Gespür, dann aber für die Liebe oder die Sehnsucht oder die Erinnerungen. Die Lieder sind auch so einfach gestrickt, dass man gar nicht auf die Idee kommen würde, die als kitschig zu bezeichnen. Denn Anlass gäbe es hier und da schon, doch genau in diesen Momenten spielt die Band erst und bedacht. Morgens Um Vier heißt ihr mittlerweile fünfzehntes Album. Und das erste seit sehr langer Zeit, an dem David Young nicht mitgewirkt hat, letztes Jahr ist er verstorben. Doch die Band hat sich über die vielen Jahre ihres Bestehens einen so stark wiedererkennbaren Sound erspielt, dass es zumindest nicht hörbar ist. Weiterhin erklingt immer wieder die Trompete, erschallen die kleinen Anekdoten, die großen Weisheiten, die herrlich wahren und herrlich witzigen Zeilen. Fast vierzig Jahre besteht diese Gruppe bereits. Enorm! Schön, dass sie nie müde wird zu spielen und zu dichten!


Dino Paris & Der Chor Der Finsternis
(Ms) Nach unterhaltsamen Romanen (s.o.) brauche ich oft ein Sachbuch, ein gesellschaftspolitisches meistens. Und so lese ich derzeit Die Letzten Männer Des Westens von Tobias Ginsburg. Er schreibt nicht nur über üble Männerbünde und viele einsame und traurige Willis, sondern er war selbst unter ihnen. Sehr lesenswert, sehr bitter. Doch dieser ganze ekelige Männlichkeitskult darf durchaus auch ironisch, musikalisch behandelt werden. Juse Ju macht das beispielsweise immer wieder und auch Dino Paris & Der Chor der Finsternis hat nun ein Lied darüber gedichtet. Obwohl… das stimmt nicht. Es ist ja Die Ballade Vom Sterbenden Mann. Dazu gibt es ein ganz phantastisches Livevideo, wo er zusammen mit Daniel Zillmann das Lied als Duett singt. Ein herrlicher Mix aus Innerem Monolog, Erzählung, Utopie. Es ist auch bitter, schmerzhaft, aber halt auch unterhaltsam. Wie sie dort zu dritt auf der Bühne stehen und den echten Kerlen den Abgesang herbei schwören. Insbesondere der letzte Satz hat es voll in sich. Das ist ungemein gut getextet, toll vorgetragen und macht große Lust auf noch mehr Neues aus dem Hause Paris!


Manu Delago
(Ms) Wie umweltfreundlich ist eigentlich das Musikgeschäft? Das reine Musizieren kostet natürlich nur Muskel- und Hirnkraft. Das Durchführen von Konzerten und Festivals stelle ich mir als große Stromfresserveranstaltungen vor. Dazu müssen stets sehr viele Autos, LWK etc durch die Gegend fahren. Noch größer ist vielleicht die Strombelastung durch die vielen Streamingdienste. Genaue Zahlen kenne ich dazu aber nicht. Was kann man dagegen tun? Klar, Ökostrom und so. Aber es geht auch noch krasser und das macht Manu Delago beispielhaft vor! Der österreichische Hangspieler und Komponist spielt eine Tour von Insbruck bis Amsterdam und legt diese Strecke mit seinem Team mit dem Rad zurück! Die ziehen dabei Anhänger, auf denen das Equipment festgeschnallt ist. Was für eine wahnsinnige Idee, aber auch irgendwie unendlich cool. Auch breite Umsetzung kann das sicher nicht angelegt sein, aber das Beispiel zeigt, dass vieles möglich ist. Am 1. Juni startet die Tour und endet vier Wochen später, 16 Konzerte spielt er mit seiner Band und dabei hat er auch ein neues Lied, den Soundtrack zu diesem enormen Vorhaben: From The Alps To The North Sea! Klingt gut, hin da!


Turbostaat
(Ms) Die Pandemie ist vorbei. Wurde letztens auch von Bundesebene genau so kommuniziert. Die pandemiebedingten Verschiebungen von Konzerten sind passé. Andere Probleme - Stichwort: rückläufige Vorverkäufe und unsichere Planungen - kamen hinzu. Andere hat es noch schlimmer erwischt. Nachdem Turbostaat viele Konzerte verschieben mussten, haben sie sie vergangenes Jahr komplett abgesagt. Erst Pandemie, dann Krankheit. Es schien sich lang zu ziehen, entsprechend hart muss diese Phase gewesen sein. Eine richtige Tour zum Album Uthlande haben sie meines Wissens noch gar nicht absolviert. Nun wurde der Resetknopf gedrückt. Alle sind wieder gesund, ein neues Lied ist da und ein paar Termine obendrein. Es geht also wieder los - wie erleichternd. Der Weiche Kern ist ein Cover von Gravenhurst und genauso wie Dino Paris und Juse Ju handelt es um krankhafte Männlichkeit, ein immens wichtiges Thema. Musikalisch finde ich es gar nicht mal so einfallsreich, aber der Text packt mich umso mehr. Doch am allerschönsten finde ich, dass es den Musikern aus Flensburg gut geht. Das ist und bleibt immer das wichtigste. Live kann man sich hier wieder anschreien lassen:

01.06.2023 - Hamburg, Grünspan
02.06.2023 - Dresden, Tante Ju
03.06.2023 - Berlin, SO36
06.06.2023 - Düsseldorf, Zakk

Donnerstag, 20. April 2023

Accidental Bird - The Old News Shrug

Foto: Timo Schwibbe
(Ms) Was ist eine gute Alternative zum Wort ‚Fan‘ oder dem ‚Fansein‘? Ich würde nie sagen, also wirklich aussprechen, dass ich ‚Fan von Kettcar‘ oder ‚Fan von St. Pauli‘ bin. Das klingt in meinen Ohren ganz seltsam und als ob ich immer noch 16 sei. Aber ich finde auch so vieles gut. In unterschiedlichen Abstufungen. Einiges finde ich super gut, vieles gut, ein paar Sachen so mittel und mit dem Rest mag ich mich gar nicht so sehr beschäftigen. Die Musik, die Stefan Honig immer gemacht hat, fand ich immer gut. Sogar auch schön. Oft auch sehr groß und im genau richtigen Maße pathetisch. Einige Male sah ich ihn live, auch die wundervolle Tour Of Tours (die ich gern nochmal erleben möchte). Doch dann war das Projekt Honig Geschichte. So richtig vermisst, dass ich nachts nicht schlafen konnte, habe ich es nicht. Aber ich habe mich enorm gefreut, als ich seine Stimme und seine typische Musik dieser Tage wieder hören konnte. Unter neuem Namen. Accidental Bird nennt er sich nun. Anfangs hab ich mich beim ersten Wort versprochen. 2018 kam das letzte Album raus. Und am 21. April folgt das Nächste. The Old News Shrug ist sehr vielseitig, vielschichtig, leise und mal laut, springt in die Luft und verkrümelt sich dann wieder.

Auf vielen der neuen Liedern fängt er ein ernüchterndes Gefühl ein, mit dem ich mich unheimlich gut identifizieren kann. Ja, es ist ein unheimliches Gefühl. Es passieren tausend Sachen auf der Welt. Viele Schlimme obendrein. Informiere ich mich zwei, drei Mal auf der Tagesschau-App über das Geschehen in der Welt, bin ich oft entsetzt, erschrocken, betroffen, ratlos, wütend. Doch das hält erschreckend kurz nur an. Spätestens am nächsten Tag ist es verschwunden. Der Schnee von gestern. Geschmolzen. Und das ist doch Mist, dass das so abstumpft, mitunter gleichgültig macht. In diesen Windungen erhebt sich The Old News Shrug.

Die 41 Minuten fangen recht sanft an. Stefans Stimme, begleitet vom Klavier, leicht verzerrten Gitarren im Hintergrund. Und erkling da nicht auch etwas trompetenmäßiges? Pools ist das erste Stück. Denn wenn der komplette Untergang kommt, dann setzen wir uns in eben jenen hinein und schauen entspannt zu. Am besten am Smatphonebildschirm. Ja, Hoffnung macht der textliche Einstieg nicht. Der Musikalisch aber umso mehr. Ich finde, in Stefan Honigs Musik liegt seit jeher ganz viel Wärme und Aufrichtigkeit drin. Das hat mich immer schon gepackt und tut es auch dieses Mal. Das spüre ich ganz deutlich bei Only Empire. Das Lied überzeugt mich gar nicht mal so stark. Aber in den Harmonien und Arrangements wohnt etwas, was mich ganz ruhig und glücklich macht. Das schöne Geheimnis der Musik.
Auf diesem neuen Album geht es nicht nur so weiter, wie er auf dem letzten aufgehört hat. Higher Goals To Shoot For beginnt ordentlich elektronisch und mit verzerrter Stimme, dann setzt eine Bassdrum ein und es entsteht ein herrlich strahlendes Lied, das größer und größer wird und ein Beweis dafür ist, was Stefan immer schon für ein gutes Händchen hatte für Lieder, zu denen man nur die Faust in die Luft recken möchte. Und auch auf YES I Kiss My Mother With That Mouth zeigt er, dass Synthie-Keyboard-Klänge genauso wirkungsvoll sind wie die gute, alte Gitarlele.
Zwischendurch achte ich gar nicht mehr auf die Texte, sondern lasse mich komplett von der Musik tragen und es tut mir sehr gut, beruhigt mich, streichelt mich sanft. Das finde ich toll, es ist ein großer Genuss. Doch große Töne müssen auch immer wieder sein. Und die kommen direkt hintereinander. Erst erklingt Save Me. Mit ganz sanften, leisen Akkorden zu Beginn. Es entwickelt sich zu einem ruhigen Folkpopsong, der erstmal gar nicht so viel Aufmerksamkeit auf sich zieht. Doch wenn im Hintergrund die Bläser langsam durchschallen, dann sagen sie: Gleich kommt noch was. Dann pausieren sie, kommen zurück, mehrere Stimmen legen sich übereinander und ein wirklich erbauliches, wunderschönes Ende steigt empor. Dass Musik heilbar ist, diese These stelle ich schon lange auf. Es sind genau solche Lieder, die diese Kraft haben. Kaum sind die letzten Töne verhallt, beginnt Monsters. Vielleicht ist es das mitreißende Folksonghighlight dieser Platte. Hier bitte alle Regler aufdrehen und zurücklehnen und genießen. Oder wild durch die Bude tanzen. Beide Reaktionen sind mehr als angemessen! Hier klingt die ‚alte‘ Tour Of Tours komplett durch, bekannte Stimmen sind zu hören mitsamt der völligen Eskalation! Wow! Grandios!

Ja, es gibt noch viel mehr wunderschöne Lieder auf dieser Platte. Und sie alle sind es wert, aufmerksam angehört zu werden! Bitte tut das! The Old News Shrug ist das Debut eines alten Hasen, der immer noch ganz genau weiß, wie (im allerweitesten Sinne) Rockmusik funktioniert. Ja, lyrisch ist es eher die Apokalypse. Musikalisch ist es ein großer Aufbruch! Und das sollte dringend an folgenden Daten abgefeiert werden. Denn ich bin Fan!

21.04. Karlsruhe, NUN
22.04. Trier, Melodica Festival
09.05. Münster, Pension Schmidt
19.05. Mainz, Schon Schön
20.05. München, Heppel & Ettlich
21.05. Stuttgart, ClubCANN
27.05. Hamburg, Molotow Skybar
28.05. Beverungen, Orange Blossom Special
01.07. Mastholte, Sommer Am See
02.07. Haldern, Pop Bar
04.07. Berlin, Monarch (mit Tim Neuhaus + Jim Bryson)
06.07. Köln, Weltempfänger
07.12. Gütersloh, GTown Music Acoustic Session




Donnerstag, 6. April 2023

KW 14, 2023: Die luserlounge selektiert

Quelle: de.Wikipedia.org
(Sb/ms) Über Kunst zu diskutieren, finde ich mühsam. Ja, fast schon überflüssig. Nicht, weil es anstrengend sein kann, die richtigen Worte zu finden, was man häufiger nur erfühlen kann. Wenn mir etwas nicht gefällt oder mir der Zugang zu einer bestimmten Art der Musik fehlt, dann ist es doch auch hoffnungslos, dass in seine Einzelteile zu zerlegen, nur weil man jemanden Überzeugen will. Musik lässt sich meines Erachtens nach nicht argumentativ gut finden. Da kann der Text auch noch so poetisch, das kann noch so eine gute, gefühlvolle Geschichte sein, es kann noch so sehr eine gesellschaftspolitische Analyse auf den Punkt sein, humorvoll oder aneckend. Wenn das nicht mein Herz berührt, in die Beine geht, ich mich dabei nicht fallen lassen kann, dann ergibt das für mich einfach keinen Sinn. Musik lässt sich aus meiner Warte nur erleben und so genießen. Viel Spaß beim Genuss:
 
Alexandra Stréliski
(sb) Wie unfassbar schön kann Musik sein? Mir ging es in den letzten Wochen gesundheitlich richtig dreckig, an Musikhören war in den seltensten Fällen überhaupt zu denken. Zu hektisch, zu laut und überhaupt viel zu anstrengend. Schön langsam finde ich wieder rein in den Alltag und natürlich spielt Musik da wieder eine zentrale Rolle. Und just in diesem Moment lerne ich Alexandra Stréliski kennen und BÄM, wie traumhaft sind diese Klänge! In ihrer kanadischen Heimat hat sich die Pianistin und Komponisten bereits einen Namen gemacht, nun erobert sie (hoffentlich) auch den europäischen Markt. Am 31. März erscheint ihr neues Album Néo-Romance, das von den Geschichten ihrer Vorfahren und einer neuen Liebe in Rotterdam inspiriert ist. Darauf indet die Musikerin mit polnisch-jüdischen Wurzeln einen neuen, romantischen Zugang zum Leben und ihrer Musik. Lasst Euch das nicht entgehen, das ist ganz wundervoll.
 


Bipolar Feminin
(Ms) Freude. Das ist ein schönes Gefühl. Da kann niemand widersprechen. Und ich freue mich immer, wenn aus einer ‚kleinen‘ Band eine etwas größere Band wird. Vergangenes Jahr hat die österreichische Band Bipolar Feminin ihre EP Piccolo Family veröffentlicht und ich war enorm begeistert von dieser etwas schroffen Musik mit ganz klaren Texten, die von Wut, Verzweiflung, Aufbegehren, Revolution, Träumen und einer umsichtigen Analyse des Status Quo beherrscht sind. Diese EP erschien noch auf dem kleinen Label Nuvami aus Wien. Nun wird es ein Album geben. Ein Fragiles System wird am 19. Mai auf Buback erscheinen, einer sehr guten Adresse hierzulande. Und ich freue mich so sehr für diese Gruppe, dass ihr Wege geebnet werden, für die man halt auch ein paar Verbindungen braucht. So läuft das Geschäft. Und noch besser: Die zwei Singles, die bislang zu hören sind, beweisen, dass sie ihrem Sound und ihrer Lyrik vertrauen. Das ist doch das Beste überhaupt. Wenn sich eine Gruppe, die ein wenig Aufschwung erleben kann, sich dafür nicht biegen muss. Denn die Gruppe zeigt, dass Gitarrenrock immer noch so richtig knallen kann und dass Texte immer noch wichtig sind! Zur Albumveröffentlichung gibt es hier dann definitiv mehr dazu zu lesen!


Kid Be Kid
(Ms) Die Angst zu haben, etwas zu verpassen. Ich bin ganz ehrlich: Das habe ich nie verstanden. Denn das muss doch der reinste Stress sein, wenn man überall da sein möchte, wo tendenziell etwas passiert, das man dann wieder anderen erzählen kann. Warum sich nicht auch gute Geschichten erzählen lassen?! Nur muss ich leider doch eine Einschränkung machen (keine Regel ohne Ausnahme): Letztes hätte ich beinahe Kid Be Kid in Oldenburg gesehen, doch leider war sie krank und konnte nicht mit Woods Of Birnam zusammen auf der Bühne stehen. Zugegebenermaßen kannte ich die Musikerin vorher gar nicht, doch das, was ich über sie las, hat mich wahnsinnig neugierig gemacht. Unglaublich gern hätte ich das live gesehen. Nun, vielleicht kommt die Gelegenheit, denn neue Musik ist auf dem Weg. Am 9. Juni erscheint ihr neues Album mit dem griffigen Namen Truly A Live Goal But No Ice Cream. Dass man sich das zumindest mal anhören sollte, verrät diese kleine Beschreibung vielleicht: Die Sängerin und Pianistin, die sich irgendwo zwischen Jazz und Soul bewegt, nutzt extrem wummernde Beats und Beatboxing, um aus dieser Mischung unsagbar elektrisierende Tracks zu formen. So richtig vorstellen konnte ich mir das auch nicht, aber schaut euch bitte das Video zu Naked Times an. Und hört zu. Ich glaube, damit ist alles gesagt. So zart der Beginn ist, so derbe entwickelt sich der Song. Damit hätte ich nie gerechnet. Und ich bin ehrlich traurig, dass ich das verpasst habe.

 
Rathmann
(sb) Klar, so wirklich neu haben Rathmann das musikalische Rad nicht erfunden, aber muss ja auch nicht. Entscheidend ist doch, ob es gefällt und das tut es. Das Quartett aus Marburg klingt mal wie Element of Crime, dann wieder wie Provinz - und findet doch einen Weg, einen eigenen Stil zu kreieren, der catchy und sehr unterhaltsam ist. Auf ihrer selbstbetitelten EP (VÖ: 10.03.) versammeln Sänger Magnus Ernst und seine Bandkolleginnen und -kollegen sechs Tracks, die ins Ohr gehen und im Hirn bleiben. Kann man mal so machen und es würde mich nicht wundern, wenn man Roter Wein oder Alter Luxus schon bald vor großem Publikum zu hören bekäme.



Antillectual
(sb) Kennengelernt habe ich Antillectual über die geniale Coverversion des Police-Klassikers Truth Hity Everybody. Der läuft seitdem regelmäßig bei mir, dennoch habe ich den Weg der Niederländer nicht weiter verfolgt. Warum eigentlich nicht? Nun aber flatterte das neue Album Together rein, das die Singles der letzten Monate vereint und einen wunderbaren Status Quo des Schaffens des Trios bietet. Melodischer Punkrock, der Spaß macht und einen zappeln lässt. Manchmal muss das einfach sein und je lauter, desto besser!


 
L.Dre
(Ms) Crossover war immer mies. Ich glaube, es hat nie so richtig funktioniert. Dabei meine ich Crossover als Mischung von Klassik und Rock. Symphoniker, die irgendwelche Klassiker neu aufgelegt haben. Das mag als einzelnes Stück irgendwie ganz nett sein, langweilt mich aber über die Spieldauer eines ganzen Albums doch schon stark. Dass Mixe verschieden Spielarten aber immer wieder sehr gut aufgehen, dafür gibt es genug Beispiele. Doch von einer Kreuzung von Rap und Klassik habe ich vorher noch nie gehört. Bis ich dann etwas von L.Dre gelesen habe. Der Musikproduzent wuchs mit HipHop auf, nutzte aber klassisch instrumentale Musik unter anderem zum Lernen. Nun hat er auf seinem Album LoFi Symphony beides zusammen gebracht. Die Melodien aller Stücke sind klassische Klassiker (haha), die jeder schon mal gehört hat. Doch er hat sie in einen extrem gemütlichen Hintergrundbeat gepackt. Das entspannt wahnsinnig stark, beruhigt die Nerven und macht irgendwie Spaß. Selten war funktionale Musik derart cool! 

Live in Bremen: Martin Kohlstedt

Foto: rbb-online.de
(Ms) Vieles passiert im Kopf, aber noch mehr passiert in den Fingern. Wenn Martin Kohlstedt auf der Bühne steht, ist das nicht nur zu hören, es ist sogar sichtbar. Das, was bei seinen Konzerten passiert, ist einzigartig. Jeder Auftritt ist komplett neu, es gibt keine Set-List, keinen Ablaufplan. Nur den Moment, den Raum und den Austausch mit dem Publikum. Bei seinen Shows steht die große Frage im Raum, ob er tatsächlich improvisiert. Das glaube ich nicht. Das ist keine Frage der Qualität, sondern eine der Art, Musik zu leben, Töne zum Klingen zu bringen. Kohlstedts Weg, Melodien zum Leben zu erwecken, ist vielleicht auch gar nicht auf Improvisation ausgelegt. Um zu verstehen, was er auf der Bühne macht, hilft es eventuell zu wissen, wie er arbeitet. Alle Lieder, die er auf Platte einspielt, sind kleine Module. Es sind schon eigenständige Stücke, die aber nicht das Ziel haben, so live aufgeführt zu werden. Viel mehr sind ihre Quintessenzen die Bausteine, mit denen er dann im Moment der Darbietung spielt. Er steckt sie ineinander, lässt sie lauter und leiser werden, spielt sie mit dem Klavier oder auf dem Synthesizer. Das ist alles vollkommen frei. Es passiert alles im Moment, so wie es sich gerade anfühlt. Und genau das ist auch zu sehen. Seine Hände sind stets zwischen den Liedern auf der Suche nach der richtigen Taste, dem richtigen Instrument, dem richtigen Knopf, der richtigen Lautstärke, dem richtigen Baukasten, der dann erklingen, verzaubern, explodieren will.

All das ist gestern in Bremen passiert. Und zwar an einem recht ungewöhnlichen Ort für Livemusik in Bremen. Hält man in der Hansestadt Ausschau nach Bühnen, denkt man schnell an die Lila Eule, das Lagerhaus, die Glocke, den Schlachthof, das Modernes, den Tower oder so. Aber das Bürgerhaus Gustav-Heinemann taucht in dieser Liste so gut wie nie auf. Das mag auch daran liegen, dass es etwas weiter draußen ist, in Vegesack. Je nach dem, woher man kommt, gibt es sogar unterschiedliche Wege der Anreise. Wir sind mit der Fähre gekommen, ein toller Anfahrtsweg über die Weser. Vegesack am Mittwochabend ist ausgestorben und bis man im Saal war, war völlig unklar, ob an diesem Ort überhaupt noch Kultur stattfindet. Aber hallo! Gut gefüllt war es gestern, wie wunderbar.
Insbesondere für die Künstler in dieser Zeit, wo immer noch vieles verlegt oder abgesagt wird. Das Publikum, das zu Martin Kohlstedt geht, ist sehr unterschiedlich. Wie toll, wenn nicht alle gleich sind. Es saßen bestimmt Fans des leisen und Fans des elektronischen Kohlstedts dabei. Letzterer ist der, der eher auf der Bühne steht.

Die hat er um acht Uhr für gut 110 Minuten betreten. Und direkt war klar, was das für ein unheimlich sympathischer Typ ist, dem sehr bewusst ist, dass er privilegiert ist, vor so vielen Leuten zu spielen. Und mehr oder weniger tun und lassen kann, worauf der Lust hat. Welche Module erklingen, ergibt sich spontan. Der Abend war der erste auf einer langen Tour, die nun begonnen hat. Er selbst war froh darüber, denn es gab keine Gesetze, nichts Festgelegtes. Und auch wenn er erst vergangene Woche seine neue Platte FELD veröffentlicht hat, so spielt er dies nicht live. Viel mehr sind einzelne Melodien immer wieder zu erkennen. Ja, es hilft tatsächlich ein wenig, wenn man sich mit den Stücken von Martin Kohlstedt ein wenig auskennt. Dann ist zu erlauschen, was er wann macht, was sich überlagert, abwechselt, aufbaut. Das macht enorm viel Freude. Mit großen Augen saß ich dabei und versuchte zu erhaschen, was er wie wann und wo gemacht hat. Zwischen all den Tasten, Reglern, Pedalen, Instrumenten, Schaltern. Das ist richtige Arbeit, was er dort tut. Auf Knopfdruck kreativ sein zu müssen, ist anstrengend und ich finde es beachtlich, dass er das so kann. Klar, die Erfahrung hilft, aber was tun bei einem Blackout?! Das gab es zum Glück gestern nicht. Es gab nur mehrere Sets unterschiedlicher Couleur. Sehr gut konnte ich es im Moment aufsaugen, mitleben, genießen, mich fallen lassen. Oft fand ich es sehr schade, dass der Saal bestuhlt war. Wie gern stände ich lieber in einem kleinen Club zwischen all den Leuten und würde mich dazu bewegen. Ich glaube, dass das seiner Musik gut tun würde.
Trotz all der Begeisterung, musste ich fast schon direkt danach feststellen, wie wenig das Konzert nachgehallt hat. Klar, es war großartig, faszinierend. Doch vielleicht ist es (nur?) für den Moment gemacht. Sei es drum: Die Momente waren enorm!

Geht da bitte hin und erlebt es selbst:

14.04.2023 Berlin – RBB Sendesaal
15.04.2023 Berlin – RBB Sendesaal SOLD OUT
16.04.2023 Hamburg – Kampnagel
19.04.2023 Marburg - KFZ
20.04.2023 Köln - Kulturkirche
21.04.2023 Köln – Kulturkirche SOLD OUT
25.04.2023 Witten – Saalbau
26.04.2023 Darmstadt - Centralstation
07.05.2023 München - Freiheitshalle
09.052023 Freiburg - Jazzhaus
10.05.2023 Karlsruhe - Tollhaus
11.05.2023 Bern – Casino Bern
12.05.2023 Zürich – Bogen F SOLD OUT
13.05.2023 Dornbirn – Spielboden
14.05.2023 Zürich - Bogen F
16.05.2023 Salzburg - ARGEkultur
17.05.2023 Wien – Konzerthaus
19.05.2023 Leipzig – Peterskirche
20.05.2023 Leipzig – Peterskirche SOLD OUT
29.05.2023 Eltville - Heimspiel Knyphausen

Montag, 3. April 2023

Martin Kohlstedt - Feld

Foto: Konrad Schmidt
(Ms) Wie lässt sich die wahre Qualität eines Musizierenden feststellen? Dies zu beantworten ist wahnsinnig schwer und manchmal vielleicht auch ein wenig unfair. Denn wirklich objektive Merkmale finde ich keine. Und Musik ist und bleibt immer noch Geschmackssache. Doch ein Punkt fällt mir immer wieder auf oder ein, wo ich anfange zu staunen. Etwas, das mich stutzig macht. Das, wo ich erstarre, mich fallen lasse und zu genießen beginne. Und das lässt sich in einem Wort zusammenfassen: Variabilität! Meine These ist: Je stärker sich ein Künstler wandeln kann und der rote Faden doch immer erkenntlich bleibt, desto mehr traue ich ihm zu. Auch an musikalischem Sachverstand zum Beispiel. Ja, Intuition ist wahnsinnig wichtig beim Hören und Spielen. Aber Wissen, wie was warum funktioniert, ist noch eine andere Ebene.

Das hat meines Erachtens Martin Kohlstedt ziemlich stark verinnerlicht. Vor Jahren sah ich ihn mal mehr oder weniger zufällig live beim Traumzeit Festival und ich war baff! Sehr sanft, ja, bedächtig hat er sie Zuhörer in den Bann gerissen, die elektronischen Arrangements immer dichter und intensiver werden lassen. Da hat sich etwas aufgebaut und seine Kraft entfacht, als die Dynamik zum richtigen Zeitpunkt erreicht war. Das ist der elektronische Kohlstedt. Daneben existiert noch der akustische Kohlstedt. Wenn er versunken am Klavier sitzt und seine zarten Melodien wirken lässt. Dann ist er der Neo-Klassik-Künstler, wie er es auf seinem letzten Album FLUR gezeigt hat. Es gibt noch einen dritten Kohlstedt, den Experimentellen Arrangeur, hinter dem ein Chor steht. Das Album STRÖME mit dem Leipziger Gewandthauschor ist ein fulminanres Werk. Auch in den leisesten Sequenzen baut er Energien auf. Es wirkt immer. Das kann kein Zufall sein, da steckt viel Wissen drin und ist ansteckend. 

Nun gibt es einen neuen Kohlstedt, würde ich sagen. Einen, der sich zwischen den ersten beiden Welten bewegt. Auf seinem neuen Album FELD, das am 31. März erschien, kommt beides zusammen. Die Klaviertöne und und Synthies. Zugegebenermaßen stechen letztere ein wenig stärker hindurch. Bei einigen Stücken erklingt das Piano im Vordergrund und dahinter ballern (ja, das kann man genau so sagen) die elektronischen Beats. Hier sei der Genuss über Kopfhörer oder eine laute Anlage empfohlen!

Die neuen Lieder sind (natürlich) wieder modulare Kompositionen, die immer aus drei Majuskeln bestehen und variiert werden können. Live mag sich ein Lied gänzlich anders anhören als auf Platte, aber genau das ist auch der Kern seines Schaffen. Martin Kohlstedt ist jemand, der Musik auf eine ganz eigene, ja organische Weise lebt. Er ist dabei unsagbar flexibel, passt die Stücke live an sein Gemüt, den Anlass, das Ambiente an. Die zarte Klaviernummer geht genauso klar wie der elektronische Tanzsog mitten in der Nacht.

FELD also. Es fällt mir enorm schwer, einzelne Stücke herauszupicken und auseinanderzusetzen. Bei so einem Musiker fehlt mir dazu auch echt das theoretische Wissen. Was mir aber möglich ist, ist das Einfangen der Stimmungen. LUV ist der zarte Beginn, es bewegt sich noch im Sphärischen, schwer zu Greifenden und nimmt dann langsam Fahrt auf. Natürlich über eine Pianomelodie. Und fast unbemerkt schlecht sich ein Beat ein, der die Spannung hoch hält, tiefer wird. Es hat den Anschein, als ob Analoges und Digitales in diesem Stück im Wettstreit stehen: Wer setzt sich durch?! Hier geht es unentschieden aus, es hält sich ganz klar die Waage. Doch das bleibt nicht so auf diesem tollen Album! DIN beginnt zwar ebenfalls recht ruhig, wird im Laufe des Tracks aber deutlich elektronisch dominiert, hier sollte der Bass möglichst hoch gedreht werden, eine starke Tanznunmer! ELZ wabert wunderbar vor sich hin. Hier wird das Tempo total rausgenommen, aber der Kopf will zu sehr weichen Melodien und einem mühelos tragenden Beat leicht wippen. Dieses Lied besticht durch seine gutmütige Unaufdringlichkeit. MOD fackelt erst gar nicht lang, die Synthieklänge machen direkt dem Klavier den Platz streitig. Enorm wie dieses Lied pocht und wummert. Das hier ist wahrlich kein Techno oder so. Es ist die vielleicht sanfteste Form der elektronisch derben Musik, die mir je widerfahren ist. Denn die Bässe sind schon tief, aber immer entspannt, das Tempo ist gering, alles sehr ausgewogen! PIX ist eine kleine, ruhige Pause. Einmal durchatmen. SJO wiederum der erste fast ausschließlich analoge Track auf diesem variablen Album! DIA hat auch den Anschein, entwickelt sich aber zu einer recht (verhältnismäßig) düsteren Nummer, wo es hier und da auch mal knartscht und knirscht. Auch hier wird wunderbar unterschwellig erst die Spannung aufgebaut und dann dreht sie frei! Ach, das ist alles unglaublich gut gemacht! Auch OHM ist freier, im Hintergrund ist sogar Gesang zu hören. Das will ich unbedingt live erleben, wie dieses Lied seine Kraft freisetzt!

Ja, dieses Album lässt keine Wünsche offen. Ich bin beim Hören baff, wie es mich immer wieder überrascht. Wirklich ganz wenig ist hier vorhersehbar. Das liegt an der vielseitigen Nutzung aller Instrumente aus dem Kohlstedtschen Reservoir. FELD ist ein Album, das (endlich) die vielen Seiten dieses Ausnahmemusikers zusammen bringt und scheinen lässt. Ja, Variabilität! Sie dominiert auf wunderschönste Weise diese Platte! Herausragend!

05.04.2023 Bremen - Gustav-Heinemann-Bürgerhaus
14.04.2023 Berlin – RBB Sendesaal
15.04.2023 Berlin – RBB Sendesaal SOLD OUT
16.04.2023 Hamburg – Kampnagel
19.04.2023 Marburg - KFZ
20.04.2023 Köln - Kulturkirche
21.04.2023 Köln – Kulturkirche SOLD OUT
25.04.2023 Witten – Saalbau
26.04.2023 Darmstadt - Centralstation
07.05.2023 München - Freiheitshalle
09.052023 Freiburg - Jazzhaus
10.05.2023 Karlsruhe - Tollhaus
11.05.2023 Bern – Casino Bern
12.05.2023 Zürich – Bogen F SOLD OUT
13.05.2023 Dornbirn – Spielboden
14.05.2023 Zürich - Bogen F
16.05.2023 Salzburg - ARGEkultur
17.05.2023 Wien – Konzerthaus
19.05.2023 Leipzig – Peterskirche
20.05.2023 Leipzig – Peterskirche SOLD OUT
29.05.2023 Eltville - Heimspiel Knyphausen