Montag, 28. März 2022

Leselounge: Hendrik Bolz - Nullerjahre

Quelle: kiwi-verlag.de
(ms) MusikerInnen, die Bücher schreiben. Ein ganz heikles Thema. Man könnte ja meinen: Wer Lieder schreiben kann, sollte auch ein gutes Buch schreiben können. Dieser vom Zweifel begleitete Gedanke schleicht sich bei mir immer ein, wenn ein MusikerInnen-Buch erscheint. Bei Frank Spilker war ich vor einigen Jahren stark enttäuscht. Thees Uhlmann hat mich positiv überrascht. Sven Regener spielt in einer eigenen Liga. Thorsten Nagelschmidt kann das auch sehr gut. Bei Flake würde ich intuitiv Abstand nehmen. Till Lindemann hat mal einen Gedichtband veröffentlicht. Oh weh! Die Texte von Rammstein sind ja schon übertrieben schlecht, da will ich gar keine Gedichte lesen.

Also: Heikles Thema.
Nun erscheinen nah beieinander zwei Musiker-Bücher. Der eine Autor: Monchi, Sänger von Feine Sahne Fischfilet. Der andere: Testo, eine Hälfte von Zugezogen Maskulin. Monchi schreibt über seinen Kampf gegen sein Übergewicht im Rausch des Erfolgs und wie er Joggen für sich entdeckt hat. Bei aller Liebe zu der Band, die ich einige Male live gesehen habe: Das will ich nicht lesen, interessiert mich null. Es ist bestimmt ein ehrliches, schönes Buch. Doch als der große Texter ist Monchi sicher noch nicht aufgefallen. Feine Sahne Fischfilet stehen eher für wuchtige Aktionen, deutliche Worte, große Eskalation und sehr, sehr großes Herz! Das kann man ihnen nicht absprechen. Dafür werden sie zurecht verehrt. Auch von mir.

Nun also ein Buch von Testo, bürgerlich Hendrik Bolz. Nullerjahre - Jugend in blühenden Landschaften heißt es. Zwei Gründe waren ausschlaggebend, warum ich es mir umgehend besorgt habe. Zum Einen traue ich ihm wesentlich mehr literarische Kompetenz zu als Monchi. Mein Gefühl sagt mir: Einen kohärenten Raptext (dass wir hier nicht von Capital Bra oder so einem Schrott reden, ist hoffentlich klar) zu schreiben braucht mehr sprachliches Gefühl als bei einem lauten Punkrocktrack. Zum Anderen berichtet Bolz auf den 330 Seiten über seine Kindheit und Jugend in den 00er Jahren in Stralsund. Ich bin nur zwei Jahre jünger als er und wollte unbedingt wissen, wie er großgeworden ist. Wir sind eine Generation und scheinbar in zwei gänzlich unterschiedlichen Welten großgeworden. Was dieses Buch so unfassbar stark ist: Es ist knallhart schonungslos. Hier wird kein Blatt vor den Mund genommen. Nie. Nichts beschönigt. Gar nichts. Ich wuchs in einer nordrhein-westfälischen Kleinstadt auf. Heile Welt, viel Natur, Musikunterricht, Fußballverein, später CVJM, in der Schule alles stabil, gutes Abi und weg. Was Hendrik Bolz aus seiner Kindheit und Jugend schildert ist der reinste maßlose Exzess. Großgeworden im Stralsunder Plattenbau. Überall Hoffnungslosigkeit, Arbeitslosigkeit, Gewalt, völliger identitärer Irrweg nach der Angliederung der DDR. Entweder herrscht in organisierten Kinder- und Jugendgruppen alte Schule mit "Iss deinen Teller auf" oder einer der Gruppenleiter ist ein waschechter Nazi. Ach, nee... die gab es in der DDR ja nicht. Diese paranoide Selbstanlügerei auf staatlicher Ebene rächte sich unmittelbar.
Hendrik Bolz wuchs also genau dort auf. In dieser Welt war es (wohl) selbstverständlich, sich ganz schnell behaupten zu müssen. Mit markigen Sprüchen, Abgrenzung, Härte, viel roher Gewalt, den richtigen Klamotten und ziemlich frühem, maßlosem Alkohol- und Drogenkonsum. Der junge Hendrik mittendrin. Statt selber zu kassieren, die richtige Kleidung tragen und fleißig austeilen. 
Diese Kindheit und Jugend beschreibt er in irrem Tempo. Ein Schreibstil, der sehr nah an seiner Art des Rap ist: schnell, vulgär, direkt, klar, hart. Regelmäßig dachte ich beim Lesen: "Scheiße, wie kann es nur so weit kommen?! Wie eklatant unterschiedlich können zwei Kindheiten 440km voneinander entfernt nur sein?!" und "Was war mit seinen Eltern?!" Von denen ist nie die Rede. Die andere Frage lässt sich sozialisatorisch erklären, ist aber dennoch unglaublich hart. Ein kleines Fünkchen Hoffnung keimt immer wieder: Dezente Verliebtheit erdet ihn immer wieder für kurze Zeit.

Ohne es überhöhen zu wollen: Das sollte in den Schulen gelesen werden. Standardlektüre, um mal klar zu kommen. Ein erschreckendes, schonungsloses, temporeiches, extrem lesenswertes Buch.
Hört man danach/dabei nochmal genau auf Testos Parts bei Zugezogen Maskulin, erscheinen seine Worte in ganz neuem Gewandt.
Das hier ist sehr gelungen!

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Wenn du auf meinem Blog kommentierst, werden die von dir eingegebenen Formulardaten (und unter Umständen auch weitere personenbezogene Daten, wie z. B. deine IP-Adresse) an Google-Server übermittelt. Mehr Infos dazu findest du in meiner Datenschutzerklärung (siehe Blog-Startseite unten) und in der Datenschutzerklärung von Google.