Montag, 24. Februar 2014

Marteria ist der CR7 des Rap und tanzt mit dem Volk. Und aus der Reihe.



(mb) Zeit, die ein Erwachsener in Deutschland im Durchschnitt pro Tag vor dem Fernseher verbringt: 192 Minuten.
Zeit, die ein Erwachsener in Deutschland im Durchschnitt pro Tag mit Nachdenken verbringt: 6 Minuten.

Man stelle sich vor, man träfe niemanden, wenn man in sich geht. Unglaublich unglaubwürdig. Doch gehen sich viele hier selber aus dem Weg und ziehen es vor, Voyeure der Anderen  zu sein und googeln jede ach so lapidare Nebensächlichkeit, von glamourösen Trennungen, über infantile Love Apps bis hin zu Banalitäten (wie funktioniert Schriftgröße 13). Sich selbst weicht man aber in der Regel aus wie der A8 von Salzburg nach München an einem Freitagnachmittag. Wir sind alle Lucky Luke. Und erschießen unser Ebenbild im Antlitz unserer Gegenüberstellung bevor wir uns begegnen.
Dabei wäre es doch so schön sich selbst einmal kennenzulernen. Früchte tragen können eben nur die Blüten die verwelken. Man muss wirklich froh um die Minderheit sein, die das in sich schlummerndes Potenzial mit gleißender Freude in mürrisch eingefallene Gesichtskerben zaubern können und damit jede Unreinheit erhellen.

 
Marteria aka Marten Laciny ist so Einer. Nicht dass er von Anfang an wusste, dass es so kommen würde. Erst Fußballer auf dem Sprung zum Profi, dann Model auf dem Laufsteg auf dem Sprung zum nächsten Level und nun über alle Maßen erfolgreicher Rapper auf deutschen Bühnen ohne dass sich der Vorhang schließt und alle Fragen offen bleiben.
Was soll man dazu sagen? Er hat sich immer wieder neu erfunden und ist dabei der Alte geblieben. Und das mit Potenzial zur Weiterentwicklung. Irgendwo in der Matrix zwischen Cash Cow und Shining Star. Nach Bass Ventura war Marteria noch der Regionalligakicker, ambitioniert aber noch etwas zu GRÜN hinter den Ohren um zu wachsen. Mit ZGidZ1 war er dann sowas wie der Erstligakicker im Abstiegskampf, der nur zu gewissen Momenten im mp3-Player glänzen konnte.  Marteria ist mit ZGidZ2 nun endgültig in der Champions League des Rap angekommen und ist sowas wie der deutsche CR7 des Raps, mit all seinen wortgewandten Tricks spielt er seine Hörer schwindelig und mit absolut perfekt getimten Bässen dringt er präzise in die Spitze jeder Ohrmuschel vor. Die Mannschaft der Songs ist gut und variabel aufgestellt. In der Defensive agieren „Die Nacht ist mit mir“ und „Alt & verstaubt“ retrospektiv und sensibel. Nach vorne peitscht „Pionier“, über die außen der Gesellschaftsflügel kommt „bengalische Tiger“, während „John Tra Volta“ für ordentlich Strom sorgt. „Gleich kommt Louis“ ist der sichere Rückhalt für die Stars „Welt der Wunder“, „OMG“ und  Megastar „Kids“, der gleich mehrfach für den MVP nominiert ist.
Bei diesem Album bekommt Markus Schenkenberg Akne, Casper eine engelsgleiche Stimme und Perry Bräutigam seinen dritten Frühling und wird deshalb wieder Stammkeeper bei FC Hansa Rostock.

Das Erstaunliche ist ja, dass der Großteil nur deshalb mittelmäßig ist, weil sie sich in der Summe ihres Durchschnitts so wohl fühlen. Geregeltes Einkommen, gegeltes Haar, gesegnetes Haus, geebneter Garagenplatz, gedämpftes Gemüse. Das Schnitzel des Nebenmanns schmeckt immer besser als das Eigene. Und hätte ich doch auch Preiselbeeren anstelle von Ketchup genommen. Hauptsache sicher und geregelt, wer will denn im Tango des Lebens noch aus der Reihe tanzen? In der guten alten Zeit waren alle Donnerstags schon breit. Ich sitz daheim und rauch das ganze Zeug alleine. Vielleicht auch in Denver, Colorado. Vielleicht auch bald überall. Es geht wieder was. Der Pionier Zeitgeist erfasst wieder die Meute. Genau so Leute braucht das Volk. Dafür reicht eine Minderheit, dafür reicht Marteria. Einer, der mit dem Volk tanzt.

Check auch unserer erste Marteria/Marsimoto Empfehlung, die den Künstler umfassend umreißt:

Marteria und Marsimoto - Genie oder Wahnsinn?



Freitag, 21. Februar 2014

Judith Holofernes – "Ein leichtes Schwert": Musik für hippe Kreuzberger Ü30?!

(ms) Wer ist das denn?!
Eigentlich eine dämliche Frage. Aber nun gut: Judith Holonernes, im Pass steht allerdings Hohlfelder, war jahrelang stimmgebende und textende Frontfrau von Wir sind Helden. Nachdem die Band eine „Pause auf unbestimmte Zeit“, also sich aufgelöst hat, hat sich Holofernes mit ihrem Mann (und Drummer der Helden) nach Kreuzberg zurückgezogen, um ihre beiden Kinder groß zu ziehen, anstatt das auf Tour mit der Band zu machen, wofür sie keine Lorbeeren geerntet haben. Sie fing an zu bloggen, wie man das ganz hip in Berlin macht, schrieb Tiergedichte und irgendwie hielt sie es nicht aus ohne Musik weiterzumachen. Also ein Soloprojekt. Immerhin hat Mark Tavassol mit Klaas Heufer-Umlauf auch die Gruppe Gloria gegründet. Ganz gendergerecht kümmert sich bei der Solotour auch der Papa um die Kinder. Zu Hause.

Quelle: becktomusic.com Fotografin: Julia Gajewski
Was ist da nun zu hören?!
12 Lieder, die zum großen Teil sehr unterschiedlich sind. Mit dem schönen Popsong „Nichtsnutz“ geht es los, der fröhlich das Album eröffnet und die musikalische Marschroute vorgibt. Insgesamt sind die Songs minimalistischer komponiert als bei Wir sind Helden. Wenig Schlagzeug, eher Percussion. Klatschen und Zylophon/Marimbaphon machen die Sache spielerisch und leicht. Die Stimme und Texte stehen hier wesentlich im Vordergrund. „Danke, ich hab schon“, ein schönes Anti-Alles-Lied leitet zur Single „Liebe Teil 2 – Jetzt erst recht“ über, der (!) Ohrwurm der Platte. Auf eigene Weise süß plätschert „Opossum“ hinterher. Und dann der große Schreck beim Blick auf die Tracklist: MILF! Da steht tatsächlich MILF. Es geht aber nicht um Mothers, sondern den Musikgeschmack I like to fuck! Na gut. Ein wildes Durcheinander von guten und weniger guten Bands, laut Holofernes. Zwei bärenstarke Stücke, nämlich „Brennende Brücken“ und „Hasenherz“ kommen direkt im Anschluss, bevor ein Feature mit Tobias Jundt, Monsieur Bonaparte, die schlimmsten Töne des Albums von sich geben. Kann man guten Gewissens skippen.

Muss man das Album mit Wir sind Helden vergleichen?!
Ja. Ist ja immerhin die gleiche Sängerin und Texterin.
Nein. Es ist eine eigene, selbstständige Platte; keine Solo-Fortsetzung der Band.

Für wen ist das Album?!
Holofernes selbst sagt, dass es für hippe Menschen ist. Ah! Da ist das schlimme Wort, hip. Wir wohnen doch nicht alle in Berlin-Kreuzberg oder sonstigen In-Vierteln. Aufgrund des großen Pop-Potentials ist es für jeden; vom Radiohörer bis zum Indiekind, immerhin spielt sie ja dieses Jahr auf dem Haldern-Pop-Festival! Menschen, die keinen Jutebeutel, große Brillen, einen miesen Kleidungsstil und Apple-Endgerät haben, dürfen auch dieses Album kaufen.



Hätte dieses Album so große Aufmerksamkeit, wenn Holofernes nicht so bekannt wäre?!
Eine gute Frage. Möglich ist, dass es einfach so in der Schwemme der Popmusik untergehen würde. Möglich ist aber auch, dass es gehypt würde, wegen Kreuzberg und so. Ihr Bekanntheitsgrad ist ihr großer Vorteil, sodass bereits einige Konzerte der kommenden Tour ausverkauft sind.

Was mache Tobias Kuhn denn hier!?
Tobias Kuhn, von uns wertgeschätzter Musiker in Form von Monta, Sänger der legendären Miles, Gitarrist und Produzent bei Thees Uhlmann, Songschreiber bei Udo Lindenberg, Hit-Produzent bei den Toten Hosen („Tage wie dieser“), ist hier präsent als Musik- und Textschreiber der Single „Liebe Teil 2 – jetzt erst recht“ und dem Schluss des Album „John Irving“, wo Judith Holofernes mit den Lichtgestalten aus moderner Literatur abrechnet.

Kaufen oder lieber nicht?!
Es ist über weite Strecken ein richtig gutes Pop-Album. Schöne Melodien, Texte zum mitsingen, unterschreiben und merken. Aber: Einige Songs machen den Gesamteindruck kaputt, weil unpassend („MILF“, „Platz da“, „John Irving“). Daher meint die Luserlounge: 6/10